Aktuelle Sachlage
Nachdem in der vorangegangenen FAQ und Handreichung das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren schon abstrakt umschrieben wurde, soll nun anhand eines Artikels ein fiktives Szenario umrissen werden, wie ein barrierefreies Verwaltungsverfahren im Idealfall in der Praxis ablaufen könnte.
Ausgangspunkt ist ein blinder Mensch, welcher einen neuen Computer samt der gewünschten Hilfsmittel für private Zwecke beantragen möchte. Dem Laien ist oftmals nicht bewusst, welche Ausstattung ihm zusteht und was er aus privaten Mitteln beisteuern muss.
Auf der anderen Seite gibt es die zuständige Krankenkasse, deren Verfahren und Abläufe bei der Beantragung von Leistungen nahezu ideal auf die Bedürfnisse behinderter Antragssteller abgestimmt sind.
Durch die konsequente Berücksichtigung der digitalen Barrierefreiheit hat dies zur Folge, dass es einem blinden Antragsstellenden bis auf wenige Ausnahmen ohne fremde Hilfe möglich ist, einen Antrag bei der zuständigen Krankenkasse zu stellen.
Bewertung der Sachlage
Der vollblinden Person, abgekürzt mit A, fällt in letzter Zeit vermehrt auf, dass ihr ungefähr 10 Jahre alter PC immer langsamer wird und viele Tätigkeiten damit nicht mehr durchgeführt werden können oder sehr lange dauern. Da sie in diesen Dingen nicht sehr versiert ist, spricht sie das Thema beim lokalen Blindenverein an, verbunden mit der Hoffnung, dort Hilfe zu bekommen. Sie bekommt auf ihre Anfrage von mehreren Mitgliedern übereinstimmend die Aussage, dass es sich bei einem PC dieses Alters nicht mehr lohne, diesen reparieren zu lassen, sodass sie einen neuen brauche. Auch die von ihr eingesetzten Hilfsmittel müssten ausgetauscht werden, da diese ebenfalls ungefähr 10 Jahre alt sind. Auf die Frage, was sie jetzt machen kann, bekommt sie die Antwort, dass sie bei der zuständigen Krankenkasse einen Antrag auf Bewilligung der Hilfsmittel stellen müsse. Ein weiteres Mitglied ergänzt, dass es sich bei der Beantragung von Hilfsmitteln um ein Verwaltungsverfahren handle. Als behinderte Person habe sie Anspruch auf ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren. Die Krankenkasse müsse ihr also alle Bescheide, Formulare und Vordrucke in einer digital barrierefreien Form zur Verfügung stellen. Mit dem Antrag an die Krankenkasse sei das Verwaltungsverfahren eröffnet. Die Krankenkasse würde dann entscheiden, welche Hilfsmittel bewilligt werden. Ihr stehe dabei ein „Ermessensspielraum“ zu. Damit sei es gesetzlich zulässig, dass nicht alle beantragten Hilfsmittel übernommen werden, das müsse aber begründet werden.
Nachdem ihr bisheriger PC soweit ertüchtigt wurde, dass eine Internetrecherche möglich ist, sucht A im Internet die Webseite ihrer zuständigen Krankenkasse auf. Diese ist schnell gefunden. Nach kurzer Suche entdeckt A auch eine Unterseite zum Thema Beantragung von Blindenhilfsmitteln für den Privatgebrauch. Dort liest sie, dass sie dazu einen Antrag stellen muss, dem ein Angebot eines Hilfsmittelhändlers beigefügt sein muss. Im Abschnitt „Hilfsmittel jetzt beantragen“ findet A einen Link zu einem Kontaktformular. Über dem Formular findet sich der Hinweis, dass man bei der Gestaltung des Kontaktformulars besonders auf die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen geachtet habe. Man habe aber Verständnis, wenn es sich ein Antragssteller nicht zutrauen würde, das Formular eigenständig auszufüllen. In diesem Fall könne man über die Telefonnummer … Hilfe bekommen.
A ist es lieber, mit einem Menschen zu sprechen, bevor sie etwas falsch macht. Unter der genannten Nummer erreicht sie sofort jemanden, der erklärt, er sei speziell für Antragssteller zuständig, denen das mit dem Online-Formular zu unsicher sei. Der sehbehinderte Mitarbeiter fragt A, was sie denn gerne für neue Hilfsmittel hätte, ob sie sich darüber schon Gedanken gemacht habe. A erklärt, was sie bislang an Ausrüstung hat. Der Mitarbeiter empfiehlt, dass A eine neue Braillezeile, Sprachausgabesoftware und den Scanner beantragen solle. Einen neuen PC müsse sie sich aber leider eigenständig besorgen, das wäre ja bei einem Menschen ohne Sehbehinderung auch so.
Weiter fragt der Mitarbeiter, ob denn A die neuen Hilfsmittel selbst einrichten könne, einige Menschen würden sich hier sehr schwertun. A erklärt, dass sie dazu nicht in der Lage sei und fachkundige Hilfe bräuchte. Sie sei technisch nicht sehr versiert und könne nur das Nötigste. Dem Vorschlag des Mitarbeiters, zusätzlich einige Stunden an Einrichtung und Schulung zu beantragen, stimmt A zu, sodass auch dieser Posten in das Antragsformular mit aufgenommen wird.
Neben dem Antrag benötige die Krankenkasse noch ein Rezept des Augen- oder Hausarztes, weil sich A die Hilfsmittel, wie Medikamente, verschreiben lassen müsse. In diesem Fall rät der Mitarbeiter dazu, sich die Hilfsmittel vom Augenarzt verschreiben zu lassen, da dies die Wahrscheinlichkeit auf einen günstigen Ausgang des digital barrierefreien Verwaltungsverfahrens für A steigere. Weiterhin verspricht er, alles Notwendige in die Wege zu leiten. A würde bald eine E-Mail bekommen, zusätzlich müssten sie ihr den Bescheid aber leider auch als Brief zusenden, dies sei gesetzlich so geregelt. Sobald das erledigt sei, wäre das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren eröffnet.
A erhält bei ihrem Augenarzt das entsprechende Rezept, das an die Krankenkasse weitergeleitet wird.
Wenige Tage später ruft der gleiche Mitarbeiter bei A an und fragt, ob A schon ein Angebot eines Hilfsmittelanbieters eingeholt hat. Dies hatte A jedoch noch nicht erledigt. Die Krankenkasse dürfe zwar keine Anbieter empfehlen, aber der Mitarbeiter schickt A eine Liste von Hilfsmittelanbietern, aus der hervorgeht, dass einige davon auch Zweigstellen in ihrer Nähe unterhalten.
In den nächsten Tagen kontaktiert A mehrere Anbieter und besucht auch deren Zweigstellen vor Ort. Ihr werden mehrere Produkte gezeigt. Die Produkte eines Händlers sagen A sehr zu, sodass sie diese beantragen möchte. Das Angebot des Händlers, den Antrag an die Krankenkasse zu schicken, nimmt A an.
Das für A erstellte Angebot enthält Folgendes:
Eine neue Braillezeile, eine neue Version der Sprachausgabe-Software, einen Scanner, eine entsprechende OCR-Software, sowie mehrere Stunden Einrichtung und Schulung des A durch qualifizierte Mitarbeiter.
Nach ein paar Tagen erhält A eine E-Mail ihrer Krankenkasse mit dem Hinweis, dass nun alle Unterlagen eingegangen seien. Das Verwaltungsverfahren sei nun ordnungsgemäß eröffnet. Die Entscheidung über die Bewilligung könne aber zwei bis drei Wochen dauern.
Knapp zwei Wochen später erhält A eine E-Mail, geschrieben von einem für A unbekannten Sachbearbeiter, der ihr mitteilt, dass für sie eine neue Nachricht eingegangen wäre. Der Krankenkasse sei bewusst, dass A technisch nicht sehr versiert sei, weshalb man ihr dahingehend entgegenkommen wolle, indem man ihr anbiete, die Nachricht ausnahmsweise als unverschlüsselte E-Mail zu übersenden. Dies sei normalerweise aus datenschutzrechtlichen Gründen unzulässig. Die Entschlüsselung von verschlüsselten Nachrichten erfordere aber gewisse technische Fertigkeiten. In diesem Fall läge die Vermutung nahe, das A mit diesem Vorgang überfordert sein könne. Man sei in diesem Fall ausnahmsweise bereit, vom gewohnten Weg etwas abzuweichen und A diese Nachricht als unverschlüsselte E-Mail bereitzustellen. Dies würde auch der Rechtsprechung des Sozialgerichts Hamburg entsprechen, welches in einem ähnlichen Fall entschieden habe, dass dem blinden Kläger ein Anspruch auf Übersendung des Bescheides als einfache, unverschlüsselte E-Mail zustehe, da alle anderen Möglichkeiten ausscheiden würden. (SG Hamburg, Urteil vom 30.06.2023 – AZ S39 AS517/23)
Hingewiesen wird noch darauf, dass dies absolut unüblich sei, da eine so wichtige Nachricht von jedem gelesen werden könne, der die E-Mail abfängt.
Man habe aber Verständnis für die Situation von A, sodass sie nur ihrem Sachbearbeiter mitteilen müsse, dass sie mit der unverschlüsselten Übermittlung der E-Mail einverstanden sei.
Dies wird von A auch gleich erledigt. Es dauert nur wenige Stunden, bis sie eine weitere E-Mail erreicht. Sie enthält den Bescheid im digital - barrierefreien PDF-Format. Wie zwischen A und ihrem Sachbearbeiter abgesprochen, hat man die Braillezeile, die Sprachausgabesoftware, den Scanner, die Texterkennungssoftware und einige Stunden an Einrichtung und Schulung genehmigt. Der Bescheid enthält noch den Hinweis, dass es sich hier um einen für A begünstigenden Verwaltungsakt handele, mit dessen Verkündung und ordnungsgemäßer Zustellung das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren nun abgeschlossen sei.
A ist sehr erfreut darüber, dass die Beantragung der Hilfsmittel so schnell und reibungslos von statten gegangen ist und sie sich auf eine ganz neue Ausstattung freuen kann. Sie verliert keine Zeit und benachrichtigt sofort ihren Hilfsmittelanbieter, dieser hat den Bescheid ebenfalls bereits erhalten und sichert zu, A die Ausrüstung noch diese Woche zu liefern und anzuschließen. Die Einweisung, welche mehrere Tage dauern würde, könne dann zeitnah erfolgen.
Zwei Tage später erscheinen die Mitarbeiter des Hilfsmittelhändlers und richten für A ihren neuen PC ein.
Handlungsempfehlung
Dieser Artikel soll beispielhaft aufzeigen, wie ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren im Idealfall ablaufen kann, wenn alle Beteiligten auf die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Nutzer eingerichtet sind. Dazu gehört zweifellos die Bereitschaft, an der einen oder anderen Stelle vom gewohnten Weg abzuweichen.
Jede öffentliche Stelle ist gut beraten, ihre Verwaltungsverfahren so anzupassen, dass man den Bedürfnissen möglichst vieler Menschen und deren unterschiedlichsten Einschränkungen gerecht wird. Dafür ist es unumgänglich, dass die Verwaltungsverfahren weitestgehend digitalisiert werden, was den Prozess für alle daran Beteiligten beschleunigt. Insbesondere für blinde Menschen bringt die Digitalisierung der Verwaltung viele Vorteile. Dem Bedürfnis auf digital barrierefreie Bescheide kann so schneller und gezielter entsprochen werden. Dafür sollten aber Medienbrüche, wie ausgedruckte und dann wieder digitalisierte Bescheide und Schreiben, so weit wie möglich vermieden werden, da dabei immer die Gefahr besteht, die digitale Barrierefreiheit der Dokumente zu beeinträchtigen.