FAQ zum Thema digital barrierefreie Verwaltungsverfahren

Es werden zahlreiche Fragen mit Antworten zu digital barrierefreien Verwaltungsverfahren skizziert.

Seit mehreren Jahren sind alle öffentlichen Stellen in der EU verpflichtet, ihre Angebote wie Webseiten und mobile Anwendungen barrierefrei zu gestalten. Dies betrifft sowohl öffentliche Stellen des Bundes und der Länder. Diese Verpflichtung umfasst jedoch auch die Kommunikation der öffentlichen Stellen, beispielsweise mit Bürgern oder Unternehmen. Daher soll im Folgenden an Hand einiger Fragen aufgezeigt werden, in welchem Stadium des Verwaltungsverfahrens welche Besonderheiten bei der digital barrierefreien Gestaltung zu berücksichtigen sind.

1 Grundsätzliche Fragestellungen zur digitalen Barrierefreiheit und Verwaltungsverfahren

1.1 Was heißt generell digitale Barrierefreiheit?

Unter der digitalen Barrierefreiheit versteht man die Gestaltung von Webseiten, Software und mobilen Anwendungen unter Berücksichtigung harmonisierter Normen, wie der EN 301 549 in der jeweils aktuellen Form. So kann sichergestellt werden, dass so viele Menschen wie möglich die Webseite, Software oder mobile Anwendung bedienen können.

1.2 Was versteht man grundsätzlich unter einem Verwaltungsverfahren?

Als Verwaltungsverfahren bezeichnet man die Tätigkeiten einer Behörde, die erforderlich sind, um einen Verwaltungsakt zu erlassen oder einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abzuschließen (§ 9 VwVfG ). Die Verfahrensgrundsätze sind in §§ 9 bis 30 VwVfG geregelt.

1.3 Aus welchen Rechtsgrundlagen ergibt sich, dass ein Verwaltungsverfahren digital barrierefrei sein muss?

Die digitale Barrierefreiheit des Verwaltungsverfahrens ist sowohl in Bundes- als auch in Landesgesetzen geregelt. Auf Bundesebene findet sich die Regelung in § 10 Abs. 1 BGG (Bundesbehindertengleichstellungsgesetz):

„(1) 1Träger öffentlicher Gewalt haben bei der Gestaltung von Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken eine Behinderung von Menschen zu berücksichtigen. 2Blinde und sehbehinderte Menschen können zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 insbesondere verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden.“

Das Gesetz bestimmt, dass behinderte Menschen, insbesondere Blinde, von den öffentlichen Stellen des Bundes verlangen können, dass sie bestimmte Schriftstücke, darunter Bescheide, in einer Form zur Verfügung stellen, die für den blinden Menschen wahrnehmbar ist. Dies bedeutet in der Praxis in den meisten Fällen, dass dem Blinden ein Anspruch gegen die öffentliche Stelle zusteht, ihm den Bescheid als digital barrierefreies PDF-Dokument zur Verfügung zu stellen, das von seinem Screenreader gelesen werden kann.

Daneben gibt es auf Landesebene, beispielsweise in Hessen, den § 12 Abs. 1 HessBGG, der mit „Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken“ überschrieben ist:

„(1) 1Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 haben bei der Gestaltung von schriftlichen Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken eine Behinderung von Menschen zu berücksichtigen. 2Blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen können verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist.“

Wie auch auf der Bundesebene, haben blinde Menschen auch in Hessen einen Anspruch darauf, an sie gerichtete Bescheide und Vordrucke in digital barrierefreier Form zu erhalten, sodass das Dokument von einem Screenreader ausgelesen werden kann. Damit ist es beispielsweise nicht ausreichend, ein ausgedrucktes Dokument lediglich einzuscannen und als PDF-Datei zu speichern, da eine solche Datei nicht digital barrierefrei ist.

Details zur digitalen Barrierefreiheit von Dokumenten im Verwaltungsverfahren sind in der VBD, Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten, geregelt.

1.4 Weiß die Behörde von sich aus, dass sie es mit einem behinderten Bürger zu tun hat und was in diesem Fall zu beachten ist?

Vermutlich ist dies in über 90 % der Fälle nicht zutreffend. Auch bei Sozial-Verwaltungsverfahren, bei denen es oft mittelbar oder unmittelbar um die Behinderung des Antragsstellers geht, ist nicht sichergestellt, dass die Behörde von sich aus ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren anbietet. Deshalb sollte in dem ersten Antrag an die Behörde immer darauf hingewiesen werden, dass die Behörde verpflichtet ist, ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren anzubieten und wie dies im Einzelfall passieren muss.

1.5 Wie beantrage ich einen digital barrierefreien Bescheid?

Hierzu gibt es keine direkten Vorgaben. Falls ein Antragsformular verwendet wird und dieses ein Freitextfeld beinhaltet, kann man hier darum bitten, Antworten und Schriftsätze digital zu erhalten. Sonst muss man die Behörde nach erfolgtem Antrag um das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren bitten.

1.6 Was kann der Bürger machen, wenn es zwar die Möglichkeit gibt, einen Bescheid, wie ein Führungszeugnis, digital zu beantragen, er aber aus technischen, persönlichen oder organisatorischen Gründen nicht in der Lage ist, diese Möglichkeit wahrzunehmen?

In diesem Fall sollte sich der Bürger an die zuständige Behörde wenden und darum bitten, den Antrag auf anderem Wege, beispielsweise per E-Mail, einreichen zu dürfen. Hier sollte proaktiv auf die Behinderung und auf die aufgetretenen Schwierigkeiten mit dem digitalen Antragsformular hingewiesen werden.

1.7 Was ist zu tun, wenn sich die Behörde weigert, dem Anspruch des Bürgers auf ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren nachzukommen?

In diesem Fall hängt es maßgeblich davon ab, wie die Behörde argumentiert. Sollte man die Weigerung der Behörde als einen Bescheid bekommen, dann kann man aus rechtlicher Sicht dagegen innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Hier sollte man versuchen, die Argumentation der Behörde so gut wie möglich zu widerlegen. Andererseits kann ein klärendes Gespräch mit dem zuständigen Sachbearbeiter zielführender sein. Möglicherweise ist der Behörde die Notwendigkeit nicht bewusst und sie erkennt nur, dass das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren einen Zusatzaufwand oder das Abweichen vom gewohnten Verlauf eines Verwaltungsverfahrens darstellt. Sollte auf diesem Wege keine Lösung erzielt werden, kann man immer noch den rechtlichen Weg gehen.

1.8 Wie könnte die Behörde argumentieren und was kann dagegengehalten werden?

Gegen das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren könnte vorgebracht werden, dass die Umsetzung unverhältnismäßig sei und der Behörde nicht zugemutet werden könne. Tatsächlich gibt es Fälle, in denen die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit einen so großen Aufwand bedeutet, dass man das einer öffentlichen Stelle nicht zumuten kann.

Anhaltspunkte, wann eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt, ergeben sich aus Art. 5 Abs. 2 der EU-Richtlinie 2016 / 2102.

„(2) Um zu bewerten, inwieweit die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen gemäß Artikel 4 eine unverhältnismäßige Belastung bewirkt, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die betreffende öffentliche Stelle den einschlägigen Umständen Rechnung trägt, wozu unter anderem Folgendes gehört:

           a) Größe, Ressourcen und Art der betreffenden öffentlichen Stelle und

           b) die geschätzten Kosten und Vorteile für die betreffende öffentliche Stelle im Verhältnis zu den geschätzten Vorteilen für Menschen mit Behinderungen, wobei die Nutzungshäufigkeit und die Nutzungsdauer der betreffenden Website bzw. der betreffenden mobilen Anwendung zu berücksichtigen sind.“

Daraus lässt sich schließen, dass es der öffentlichen Stelle nicht möglich ist, mit fehlender Zeit, mangelnden Kenntnissen oder dem Fachkräftemangel zu argumentieren.

1.9 Was kann der Bürger unternehmen, wenn die öffentliche Stelle auf einen Antrag nicht reagiert oder sich weigert?

Zunächst sollte der Bürger bei der öffentlichen Stelle telefonisch nachfragen und um den Bescheid in digital barrierefreier Form bitten. Oft ist es seitens der Behörde kein böser Wille, dass kein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren angeboten wird, sondern Unwissenheit, Überforderung oder falsche Priorisierung. Sonst kann man sich auch an die entsprechende Landeskompetenzstelle wenden. Hier kann versucht werden, mit der Behörde ins Gespräch zu kommen, um sie auf ihre gesetzliche Pflicht hinzuweisen.

1.10 Was kann man rechtlich unternehmen, wenn die Behörde kein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren anbietet?

Um rechtlich etwas dagegen unternehmen zu können, benötigt man zunächst von der Behörde ein Schreiben, in dem bestätigt wird, dass die Behörde kein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren anbieten will oder kann. Dies wird dann als Verwaltungsakt bezeichnet. Der Bürger wird dadurch belastet, da er ggf. auf das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren angewiesen ist. Innerhalb eines Monats kann er dagegen Widerspruch einlegen. Der Adressat des Widerspruchs ist in der Rechtsbehelfsbelehrung angegeben. Dann ist es am besten, wenn man versucht, die Argumentation der Behörde so gut wie möglich zu widerlegen.

1.11 Falls die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens mittels eines Antrages nur auf analogem Weg vorgesehen ist, können dann schwerbehinderte Bürger, denen das Stellen eines Antrages per Post nicht möglich oder zumutbar ist, den Antrag digital stellen?

Es ist zu empfehlen, als ersten Schritt ein klärendes Gespräch mit der Behörde zu suchen, am besten telefonisch und persönlich. Hier sollte man darlegen, warum es nicht möglich oder zumutbar ist, den Antrag postalisch zu stellen. In den meisten Fällen steht eine Assistenz zur Verfügung, die beim Versand des Briefes behilflich ist. Falls das nicht der Fall ist oder man den Antrag digital einreichen will, sollte man auf das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren verweisen und darum bitten, den Antrag per Mail einreichen zu können. Es gibt auch die Möglichkeit, dass man mit sehender Hilfe einen Scan der Unterschrift einfügt und diese unten in das digitale Dokument einfügt.

2 Online-Verwaltungsdienstleistungen

2.1 Wo ist etwas zur digitalen Barrierefreiheit von Online-Verwaltungsdienstleistungen geregelt?

Hierzu gibt es das OZG, Gesetz zur Verbesserung des Online-Zugangs zu Verwaltungsdienstleistungen. Durch dieses Gesetz soll erreicht werden, dass zunehmend mehr Verwaltungsdienstleistungen auch online in Anspruch genommen werden können, ohne einen Brief zu schreiben oder persönlich bei der Behörde vorzusprechen.

2.2 Was versteht man unter einer Verwaltungsdienstleistung im Sinne des OZG?

Dies ist in § 2 Abs. 3 OZG geregelt:

„(3) „Elektronische Verwaltungsleistungen“ im Sinne dieses Gesetzes sind die elektronische Abwicklung von Verwaltungsverfahren und die dazu erforderliche elektronische Information des Nutzers und Kommunikation mit dem Nutzer über allgemein zugängliche Netze.“

Danach wird eine elektronische Verwaltungsdienstleistung vollständig über das Internet und über eine spezielle Webseite abgewickelt, die hierzu zur Verfügung steht. Dazu zählt auch die Antwort der Behörde auf einen Antrag.

2.3 Welche Verwaltungsdienstleistungen müssen beispielhaft vom Bund, den Ländern und den Kommunen digital zur Verfügung gestellt werden?

Hierzu ist im Gesetz selbst nichts geregelt. Stand heute existieren auf Bundes- und auf Länderebene mehrere Portale, mit deren Hilfe auf zahlreiche Verwaltungsdienstleistungen zugegriffen werden kann. Hierbei gibt es aber zahlreiche Überschneidungen, da der Bund beispielsweise auf viele Verwaltungsdienstleistungen verweist, die durch die Länder oder Kommunen angeboten werden. Auch gibt es Dienstleistungen, die nur von einigen Kommunen oder Landkreisen digital angeboten werden. Eine vollständige Auflistung aller Online-Verwaltungsdienste ist also nicht möglich.

2.4 Was versteht man unter der digitalen Barrierefreiheit im Sinne des OZG?

Die digitale Barrierefreiheit ist im OZG in § 7 Abs. 2 OZG geregelt:

„(2) Der übergreifende Zugang zu elektronischen Verwaltungsleistungen, einschließlich der für diesen Zugang relevanten IT-Komponenten, ist nach Maßgabe der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung so zu gestalten, dass sie barrierefrei nutzbar sind.“

2.5 Inwieweit müssen Verwaltungsdienstleistungen digitalisiert sein, damit die Vorgaben des OZG in diesem Fall erfüllt sind? Reicht es beispielsweise aus, wenn eine Gemeinde auf ihrer Webseite ein Formular zur Verfügung stellt, welches ausgedruckt und dann ausgefüllt werden muss?

Die Verwaltungsdienstleistung muss vollständig digitalisiert und über ein spezielles Nutzerkonto zur Verfügung gestellt werden. Darüber sind dann auch die Antworten der Behörde abrufbar.

2.6 Wenn der Bürger einen Antrag digital stellt, muss auch die Antwort der Behörde auf dem gleichen digitalen Weg erfolgen?

Ja, davon ist auszugehen, nur so kann ein vollständig digitales Verwaltungsverfahren gewährleistet werden.

3 Ablauf eines Verwaltungsverfahrens

3.1 Was ändert sich bei einem digital barrierefreien Verwaltungsverfahren im Vergleich zu einem konventionellen Verwaltungsverfahren?

Indem der Antrag grundsätzlich formfrei gestellt werden kann, ist es dem behinderten Antragssteller auch möglich, den Antrag beispielsweise per E-Mail oder telefonisch zu stellen. Falls die Schriftform vorgeschrieben ist und eine digitale Möglichkeit der Antragsstellung nicht möglich oder zumutbar ist, dann muss die Behörde auf das digital barrierefreie Verwaltungsverfahren hingewiesen werden.

3.2 Welche Ansprüche stehen behinderten Menschen zur Bearbeitung ihrer Anliegen im Verwaltungsverfahren gegenüber der öffentlichen Stelle zu?

Der behinderte Antragsteller oder Antragsgegner hat einen Anspruch darauf, dass das Verwaltungsverfahren so gut wie möglich digital barrierefrei ausgestaltet wird. Also muss die Behörde weitestgehend auf die Bedürfnisse des behinderten Menschen eingehen. Das kann bedeuten, dass Bescheide in Großdruck oder digital, in einem barrierefreien Format, zur Verfügung gestellt werden oder dass die Bescheide in Leichter oder Einfacher Sprache zur Verfügung gestellt werden.

3.3 Welche öffentlichen Stellen sind verpflichtet digital barrierefreie Verwaltungsverfahren anzubieten?

Die Verpflichtung gilt für die Behörden auf Bundes- und auf Landesebene sowie die Kommunen. Da das jeweilige Behindertengleichstellungsgesetz dazu keine Angabe macht, sind grundsätzlich alle Behörden umfasst.

3.4 Was ist bei der Anhörung des Bürgers während eines Verwaltungsverfahrens zu beachten?

Der Bürger hat im Rahmen des Verwaltungsverfahrens das Recht, sich zu der Sache zu äußern. Abhängig von der Behinderung muss die Behörde die Art der Anhörung anpassen, beispielsweise wenn jemand taub ist. Bei Menschen mit einer Hörbehinderung muss ggf. ein Gebärdensprachdolmetscher hinzugezogen werden. Menschen mit Migrationshintergrund benötigen vielleicht ebenfalls einen Dolmetscher und auch Menschen mit einer geistigen Behinderung sind evtl. auf eine Hilfsperson angewiesen. In manchen Fällen ist es für den Bürger einfacher, seine Aussage schriftlich einzureichen, da dies auch Teil des digital barrierefreien Verwaltungsverfahrens ist.

3.5 Gibt es eine Frist, in der einem behinderten Menschen Dokumente von der öffentlichen Stelle digital barrierefrei zur Verfügung gestellt werden müssen?

Das Gesetz bestimmt dazu keine Frist. Es ist der Behörde aber zu raten, den digital barrierefreien Bescheid zeitnah, also in angemessener Zeit, zur Verfügung zu stellen.

Allerdings definiert das Gesetz sehr wohl eine Frist, in der die öffentliche Stelle auf eine Eingabe des Bürgers reagieren muss. Im Rahmen des Feedback-Mechanismus ist in § 6 Abs. 1 BITV HE geregelt, dass die öffentliche Stelle auf eine gemeldete Barriere des Bürgers innerhalb von sechs Wochen reagieren muss. Es erscheint vertretbar, diese Regelung auch im Fall des digital barrierefreien Verwaltungsverfahrens analog anzuwenden. Damit wären die öffentlichen Stellen in Hessen verpflichtet, dem Bürger digital barrierefreie Bescheide innerhalb von sechs Wochen nach Eingang der Anfrage zur Verfügung zu stellen.

3.6 Was kann der Bürger unternehmen, wenn eine Frist versäumt wurde, weil der Bescheid nicht digital barrierefrei vorlag (unverschuldete Säumnis des Bürgers gemäß § 32 VwVfG)?

In diesem Fall kommt eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach § 32 VwVfG in Betracht:

„(1) 1War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. 2Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen.

(2) 1Der Antrag ist innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. 2Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. 3Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. 4Ist dies geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.

(3) Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.

(4) Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet die Behörde, die über die versäumte Handlung zu befinden hat.

(5) Die Wiedereinsetzung ist unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist.“

Beispiel: Gegen einen Bescheid einer Behörde kann man gemäß § 68 VwGO innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Das ist einer blinden Person aber nur dann möglich, wenn sie den Bescheid auch zeitgleich in digital barrierefreier Form erhält. Wird der digital barrierefreie Bescheid beispielsweise sechs Wochen später erst zugestellt, dann ist die Widerspruchsfrist abgelaufen und die Person muss die Einsetzung in den vorherigen Stand beantragen.

4. Erlass des Bescheides

4.1 Welche Folgen kann es für den Bürger grundsätzlich haben, wenn er von der öffentlichen Stelle einen Bescheid erhält?

Bei einem Bescheid oder Verwaltungsakt unterscheidet man zwischen begünstigenden und belastenden Verwaltungsakten. Der Bürger bekommt also etwas von der Behörde oder wird zu etwas verpflichtet oder muss etwas zahlen. Bei begünstigenden Bescheiden kann es sich um eine Erlaubnis handeln oder dem Bescheid für eine Geldzahlung oder Befreiung von einer Gebührenzahlung. Wird der Bürger in seinem Steuerbescheid zur Nachzahlung verpflichtet, dann ist dies für ihn belastend.

4.2 Wenn ein Bürger in einem Bescheid zu etwas verpflichtet wird, muss die öffentliche Stelle dann darauf achten, ob es dem Bürger digital barrierefrei möglich ist, seine Pflicht zu erfüllen?

In den meisten Fällen macht sich die Behörde gar keine Vorstellung, ob es für einen behinderten Menschen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, eine Pflicht zu erfüllen, beispielsweise Angaben in ein Formular einzutragen. Wenn es sich um einen Vordruck oder ein Formular handelt, dann besteht für die Behörde die Pflicht, diesen Vordruck digital barrierefrei zur Verfügung zu stellen.

4.3 Welche Arten von zugänglichen Dokumenten (Dateiformate) kann der Bürger von einer öffentlichen Stelle verlangen?

Hier dürfte wohl das PDF-Format am gängigsten sein. Aber auch wenn es möglich ist, eine PDF-Datei digital barrierefrei zu gestalten, ist es zu empfehlen, von der Behörde die Schreiben im Word-Format zu verlangen. Sonst besteht die Problematik darin, dass die PDF-Datei möglicherweise nur aus einem eingescannten Bild des Bescheides oder Schreibens besteht. Ohne Spezialsoftware kann ein Screenreader diese Datei nicht verarbeiten, weshalb das Dokument dann nicht digital barrierefrei ist.

4.4 Reicht es für ein elektronisches Dokument aus, es einfach einzuscannen oder abzufotografieren?

Nein, in diesem Fall entsteht kein digital barrierefreies Dokument, sondern nur ein Bild. Am besten ist es, wenn das Anschreiben gar nicht erst ausgedruckt wird, sondern in seiner ursprünglichen, digitalen Version verschickt wird.

4.5 Ist die digitale Barrierefreiheit während des gesamten Verwaltungsverfahrens verpflichtend und müssen daher auch Widerspruchsbescheide digital barrierefrei gestaltet werden?

Ja, das ganze Verwaltungsverfahren muss in digital barrierefreier Form ablaufen.

4.6 Gibt es verbindliche Standards, nach denen die Dokumente digital barrierefrei gestaltet werden müssen?

Ja, dazu existieren in der EU die Vorgaben der DIN EN 301 549. Diese Norm spezifiziert in Kapitel 10 Vorgaben für sogenannte „non-web-documents“. Darunter fallen Dateien im PDF- und im DOCX-Format. Daneben gibt es noch den PDF U/A-Standard, welcher Vorgaben für ein digital barrierefrei gestaltetes PDF-Dokument enthält.

4.7 Muss ein digital barrierefreier Vordruck bzw. Formular digital ausfüllbar sein?

Ja, denn sonst ist nicht gewährleistet, dass eine blinde Person den Antrag eigenständig bearbeiten und abschicken kann.

4.8 Sind Bescheide als digital barrierefrei anzusehen, wenn sie mittels einer verschlüsselten Mail verschickt werden?

Dies hängt von mehreren Faktoren ab. Es hängt einerseits natürlich vom Bescheid selbst ab und ob dieser digital barrierefrei ist. Andererseits kann selbst das Entschlüsseln der Mail eine sehr hohe Hürde darstellen. Dies gilt umso mehr, wenn der Empfänger des Schreibens technisch nicht sehr versiert ist und mit dem PC gerade so zurechtkommt. Hierzu existiert ein Urteil des SG Hamburg (Urteil vom 30.06.2023 AZ: S39AS 517/23). Hier hat das Gericht entschieden, dass die Behörde einem blinden Mann die Bescheide als unverschlüsselte Mail zuschicken muss, weil es keine andere Möglichkeit gab. Hier war der Kläger mit dem Verfahren zur Entschlüsselung der E-Mail und dem Installieren der dafür notwendigen Software offensichtlich überfordert und es war der Behörde nicht möglich, andere gangbare Wege vorzuschlagen.

4.9 Muss der Betroffene etwas dafür bezahlen, dass er die Dokumente in digital barrierefreier Form bekommt?

Nein, im Fall von Blinden, Sehbehinderten und Taubblinden ist dies nicht erlaubt, was sich auch unmittelbar aus dem Gesetz ergibt.

§ 12 Abs. 1 Satz 2 HessBGG:

„2Blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen können verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist.“

Damit bleibt die Frage offen, ob und wie viele andere Gruppen von Menschen mit Behinderung zahlen müssen, sollten sie ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren verlangen. Zu denken ist auch an Menschen, die wegen einer geistigen Behinderung oder wegen Sprachschwierigkeiten auf Texte in Leichter Sprache angewiesen sind.

4.10 Was passiert, wenn die öffentliche Stelle selbst nicht die Möglichkeit hat, Dokumente digital barrierefrei bereitzustellen, beispielsweise in Blindenschrift?

Zuerst sollte geprüft werden, ob eine digitale Zustellung des Bescheids für den Betroffenen möglich und zumutbar ist. Falls dies nicht so sein sollte, dann muss sich die öffentliche Stelle an einen Blindenverein oder Blindenschule in der Nähe wenden, welche oft die Möglichkeit haben, digitale Texte in Punktschrift auszudrucken.

4.11 In welchen Fällen könnte sich die öffentliche Stelle auf die Unverhältnismäßigkeit bei der Einführung eines digital barrierefreien Verwaltungsverfahrens berufen?

Dies kann dann der Fall sein, wenn eine blinde Person den Ausdruck eines Schreibens in Blindenschrift fordert. Wie oben bereits erläutert, trägt die Behörde in diesem Fall die zusätzlichen Kosten. Sollte die blinde Person alternativ die Möglichkeit haben, das Schreiben auch digital zu empfangen, so wäre ein Ausdruck in Blindenschrift durch die ausstellende Behörde vermutlich unverhältnismäßig.

4.12 Falls sich die öffentliche Stelle auf die Unverhältnismäßigkeit der Umsetzung beruft, entfällt dann der Anspruch des Bürgers auf ein digital barrierefreies Verwaltungsverfahren komplett?

Nein, der Anspruch wird nur auf das begrenzt, was man von der öffentlichen Stelle erwarten darf.

4.13 Ist der Einwand berechtigt, dass der Bürger sich ja eine Vorlese-Assistenz besorgen kann, die ihm beim Schriftverkehr mit öffentlichen Stellen behilflich ist?

Nein, dieser Einwand greift nicht. Andernfalls könnte man mit diesem Argument jedwede digital barrierefreie Umsetzung blockieren, weil man sich ja als Behinderter immer jemand suchen kann, der einem hilft.

5 Das Widerspruchsverfahren

5.1 Besteht für den Bürger die Möglichkeit, einen Widerspruch gegen einen ergangenen Bescheid in digital barrierefreier Form einzulegen?

Ja, entweder besteht für das laufende Verfahren bereits ein Online-Verwaltungsdienst oder der Widerspruch wird beispielsweise per E-Mail eingereicht.

5.2 Ist der Widerspruch auch gültig, wenn es einem blinden Bürger nur möglich ist, den Widerspruch in Punktschrift über seine Punktschriftmaschine abzufassen, da er keinen Computer hat?

Falls es wirklich nicht anders geht, ja. In diesem Fall kann die Behörde auch nicht mit der Unverhältnismäßigkeit der Umsetzung argumentieren, wenn kein anderer zumutbarer Weg besteht.

5.3 Ist es auch im Widerspruchsverfahren möglich, die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu beantragen, falls wichtige Dokumente nicht digital barrierefrei waren?

Ja, auch hier kann vorgetragen werden, dass wegen der verzögerten digital barrierefreien Umsetzung des Bescheids wichtige Fristen versäumt wurden.

6 Das Verfahren vor Gericht

6.1 Sollte es nach erfolglosem Widerspruchsverfahren zu einer Klage gegen die öffentliche Stelle kommen, hat der Bürger im Gerichtsverfahren auch Anspruch auf digital barrierefreie Dokumente?

Die Bundesbehindertengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder sprechen nur vom Verwaltungsverfahren. Daher gehört das Gerichtsverfahren streng genommen nicht mehr dazu. Andererseits ist in § 191a Abs. 1 GVG geregelt, dass blinden und sehbehinderten Personen Schriftstücke digital barrierefrei zur Verfügung gestellt werden müssen:

„(1) 1Eine blinde oder sehbehinderte Person kann Schriftsätze und andere Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form bei Gericht einreichen. 2Sie kann nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden. 3Ist der blinden oder sehbehinderten Person Akteneinsicht zu gewähren, kann sie verlangen, dass ihr die Akteneinsicht nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 barrierefrei gewährt wird. 4Ein Anspruch im Sinne der Sätze 1 bis 3 steht auch einer blinden oder sehbehinderten Person zu, die von einer anderen Person mit der Wahrnehmung ihrer Rechte beauftragt oder hierfür bestellt worden ist. 5Auslagen für die barrierefreie Zugänglichmachung nach diesen Vorschriften werden nicht erhoben.“

Damit stehen blinden- und sehbehinderten Personen ähnliche Rechte wie im Verwaltungsverfahren zu. Allerdings bezieht sich § 191a GVG auch auf die Verfahren der ordentlichen, der Sozial- und der Finanzgerichtsbarkeit, soweit diese schon elektronisch angeboten werden.

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